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EuGH zur Frage, wer als Arbeitgeber bei sog. Mehrstaatern im Hinblick auf das anzuwendende Sozialversicherungssystem anzusehen ist

25.07.2020

  1. Die Entscheidung

Der EuGH hat mit Urteil vom 16. Juli 2020 (C-610/18) entschieden, dass Arbeitgeber von im internationalen Güterverkehr tätigen Lkw-Fahrern im Hinblick auf das anzuwendende System der sozialen Sicherheit das Unternehmen ist, das diesen Fahrern gegenüber seine Weisungsbefugnis ausüben kann, die Lohnkosten trägt und die faktische Möglichkeit hat, den Arbeitnehmer zu kündigen.

  1. Hintergrund

Im Ausgangsverfahren hatte die AFMB Ltd., eine in Zypern gegründete Gesellschaft, Verträge mit einem in den Niederlanden ansässigem Transportunternehmen geschlossen. Inhalt dieser Verträge war es, dass die AFMB gegen Zahlung einer Provision Managementaufgaben übernehmen sollte. Weiter hatte die AFMB mit im internationalen Güterkraftverkehr tätigen Lkw-Fahrern mit Wohnsitz in den Niederlanden Arbeitsverträge geschlossen, in denen sie auch als Arbeitgeberin bezeichnet wurde. Die Lkw-Fahrer waren sodann auf Rechnung des Transportunternehmens in mindestens zwei Mitgliedstaaten der EU oder der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) tätig.

Diesen Sachverhalt zugrunde gelegt, hatte der niederländische Sozialversicherungsträger entschieden, dass die niederländischen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit auf das Verhältnis zwischen Transportunternehmen und Lkw-Fahrern Anwendung finden sollen, sodass Sozialversicherungsbeiträge in das niederländische Sozialversicherungssystem zu entrichten sind. Nach Ansicht des Sozialversicherungsträgers war allein das niederländische Transportunternehmen als Arbeitgeber anzusehen.

Gegen diese Ansicht wehrten sich die Beteiligten gerichtlich. Im Zuge der gerichtlichen Auseinandersetzung wurde der EuGH zu der Frage angerufen, wer eigentlich Arbeitgeber der betreffenden Lkw-Fahrer im Hinblick auf das anzuwendende Sozialversicherungssystem sei.

Europarechtlicher Hintergrund sind die Verordnungen Nr. 1408/71 und Nr. 883/2004, wonach Personen, wie die in Rede stehenden Lkw-Fahrer, die in zwei oder mehr Mitgliedstaaten tätig sind (sog. Mehrstaater), ohne überwiegend im Gebiet des Mitgliedstaats beschäftigt zu sein, in dem sie wohnen, im Bereich der sozialen Sicherheit den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegen, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat.

Hierzu hat der EuGH zunächst ausgeführt, dass Begriffe wie „Arbeitgeber“ und „Personal“ in den Verordnungen nicht auf nationale Rechtvorschriften verweisen würden, weshalb eine einheitliche, europaweite Auslegung geboten sei. Diese Auslegung müsse nicht nur den Wortlaut, sondern auch Regelungszusammenhang und den mit den Regelungen verfolgten Zweck berücksichtigen.

Ferner stellt der EuGH fest, dass es darauf ankomme, dass zwischen „Arbeitgeber“ und „Personal“ ein Unterordnungsverhältnis bestehe. Hierbei sei nicht entscheidend, dass ein „Arbeitsvertrag“ geschlossen worden sei, sondern wie der Vertrag tatsächlich vollzogen werde. Zu berücksichtigen sei die Art und Weise, in der die Pflichten des Arbeitnehmers und des betreffenden Unternehmens praktisch erfüllt werden.

Hieraus hat der EuGH die Kriterien entwickelt, anhand derer bestimmt werden soll, wodurch ein Vertragsverhältnis faktisch zu einem Unterordnungsverhältnis führt und sich damit bestimme, wer Arbeitgeber sei: die tatsächliche Weisungsbefugnis, die Tragung der Lohnkosten sowie die Befugnis der Entlassung.

Für den vorgelegten Fall hat der EuGH festgestellt, dass die Fahrer zum Personal des Transportunternehmens mit Sitz in den Niederlanden gehörten, da faktisch nur das Transportunternehmen diese Kriterien erfüllt habe. Damit unterfallen die Lkw-Fahrer dem niederländischen Sozialversicherungssystem.

  1. Praxistipp

Der EuGH hat mit diesem Urteil Klarheit für sog. Mehrstaater (Tätigkeit in mehreren EU-Mitgliedstaaten) und den Regelungen der anzuwendenden Verordnungen bzgl. des Sozialversicherungssystems geschaffen. Insofern ist auf die faktische Beziehung und nicht auf formale Gesichtspunkte (wie z.B. den Abschluss eines Arbeitsvertrages) abzustellen.

Damit soll verhindert werden, dass „Scheinarbeitsverhältnisse“ mit Arbeitgebern in einem anderen Land mit dem Zweck geschlossen werden, dass das aus Arbeitgebersicht vorteilhaftere (i.E. wohl kostengünstigere) Sozialversicherungssystem zur Anwendung kommt.

Felix Müller

Rechtsanwalt

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