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EuGH entschärft Arbeitgeberpflichten im Rahmen der Massenentlassungsanzeige

30.07.2023

BLUEDEX

Plant ein Unternehmen Entlassungen in größerem Umfang, so hat es vor Ausspruch der Kündigungen in der Regel eine Massenentlassungsverfahren nach §§ 17 ff. Kündigungsschutzgesetz (KSchG) durchzuführen. Fehler im umfangreichen und maßgeblich von der Rechtsprechung geformten Verfahren führen nicht selten zur Unwirksamkeit von Kündigungen und damit zu weitreichenden praktischen und wirtschaftlichen Folgen für Unternehmen. Nicht erst seit dem Fall „Air Berlin“ (BAG-Urteil vom 27. Februar 2020, Aktenzeichen 8 AZR 215/19) hat das Massenentlassungsverfahren deswegen den Ruf das Schreckgespenst der Arbeitgeber zu sein. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte nun darüber zu entscheiden, wie sich ein Verstoß gegen die Übermittlungspflicht nach § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG an die Agentur für Arbeit auf Kündigungen auswirkt.

I. Der Sachverhalt

Neben der Anzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit gem. § 17 Abs. 1 KSchG (Anzeigeverfahren), muss der Arbeitgeber bei einer Massenentlassung zuvor auch nach § 17 Abs. 2 KSchG den Betriebsrat beteiligen und diesen über bestimmte Aspekte schriftlich unterrichten (Konsultationsverfahren). Ferner ist sowohl in der europäischen Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59 EG – MERL) als auch in § 17 Abs. 3 KSchG geregelt, dass der Agentur für Arbeit vor der eigentlichen Massenentlassungsanzeige eine Abschrift dieser Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten ist. Hierdurch soll die Agentur für Arbeit bereits vor Erstattung der offiziellen Massenentlassungsanzeige informiert werden und sich auf die geplanten Entlassungen vorbereiten können.

Im nunmehr entschiedenen Fall war das Insolvenzverfahren über das Vermögen einer GmbH eröffnet worden. Da das Unternehmen die Geschäftstätigkeit einstellen und somit Massenentlassungen vornehmen musste, wurde das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat eingeleitet. Allerdings wurde es entgegen § 17 Abs. 3 Satz. 1 KSchG versäumt, der zuständigen Agentur für Arbeit eine Abschrift der schriftlichen Mitteilung an den Betriebsrat zukommen zu lassen. Die Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG wurde der Agentur für Arbeit später jedoch ordnungsgemäß zugestellt.

Einer der betroffenen Arbeitnehmer ging gegen die ihm gegenüber ausgesprochene Kündigung schließlich gerichtlich vor. Er bemängelte, dass der zuständigen Agentur für Arbeit entgegen den eindeutigen Regelungen in der MERL und dem KSchG keine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat übermittelt worden sei. Seiner Ansicht nach müsse dieser Fehler im Konsultationsverfahren zur Unwirksamkeit der Kündigung führen.

II. Die Entscheidung des EuGH

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) nahm im Rahmen der Revision an, dass es sich bei der vom Arbeitgeber unterlassenen Mitteilung an die Agentur für Arbeit zwar um einen Verstoß gegen das deutsche Gesetz zur Umsetzung der EU-Richtlinie in nationales Recht handele. Allerdings sei unklar, ob dieser Verstoß auch zur Unwirksamkeit der im Rahmen des Massenentlassungsverfahrens ausgesprochenen Kündigungen führe. Das BAG setzte das Verfahren schließlich aus und legte diese Frage dem EuGH zur Entscheidung vor.

Der EuGH urteilte nunmehr am 13. Juli 2023 (Aktenzeichen: C-134/22), dass der Verstoß gegen die Übermittlungspflicht nicht zur Unwirksamkeit der Kündigungen führt. Als Begründung führt das Gericht aus, dass die Übermittlungsverpflichtung des Arbeitgebers gegenüber der Agentur für Arbeit im Konsultationsverfahren nicht den Zweck habe, den betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren. Sie solle der zuständigen Behörde lediglich ermöglichen, einen Überblick über die Zahl und Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer sowie die Gründe der geplanten Entlassungen zu erhalten. Hierdurch werde es der Agentur ermöglicht, die negativen Folgen der beabsichtigten Entlassungen abzuschätzen und Lösungen vorzubereiten.

Insbesondere setze die Übermittlungspflicht keine vom Arbeitgeber einzuhaltende Frist in Gang, sondern erfolge nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken. Der EuGH führt aus, die Behörde nehme beim Konsultationsverfahren zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat generell keine aktive Rolle ein, sondern sei nur Adressatin einer Abschrift bestimmter Bestandteile der Mitteilung an den Betriebsrat. Auch eine Pflicht für die Behörde werde durch die Übermittlung nicht begründet. Erst im späteren Verlauf des Massenentlassungsverfahrens nehme die Agentur für Arbeit auch eine aktive Rolle ein.

III. Praxisrelevanz der Entscheidung

Folge der Entscheidung des EuGH wird sein, dass auch das BAG und die deutsche Rechtsprechung insgesamt bei einem Verstoß gegen die Übermittlungspflicht nach § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht von einer Unwirksamkeit der damit in Zusammenhang stehenden Kündigungen ausgehen wird. Dies ist aus Arbeitgebersicht sehr zu begrüßen. Die ohnehin bereits übersteigerten Anforderungen an das Massenentlassungsverfahren werden somit nicht noch weiter verschärft.

Dennoch sind Arbeitgeber weiterhin verpflichtet, die bereits bekannten Anforderungen an die Massenentlassungsanzeige einzuhalten. Es ist in Zukunft mit weiteren EuGH-Entscheidungen zu den Voraussetzungen des Massenentlassungsverfahrens zu rechnen. Es gilt, die diesbezügliche Rechtsprechung zu §§ 17 ff KSchG aufmerksam zu verfolgen. Arbeitgebern ist zu raten, die (jeweils aktuellen) Voraussetzungen zur Massenentlassungsanzeige peinlich genau einzuhalten.

Felix Müller

Rechtsanwalt

info@BLUEDEX.de