27.04.2023
Am 18.04.2023 hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales seinen lange für das erste Quartal 2023 angekündigten „praxistauglichen Vorschlag für die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung“ vorgelegt. Damit nimmt die Diskussion rund um das Thema, das seit rund 4 Jahren die Gemüter erhitzt, erneut an Fahrt auf. Was gilt aktuell, wie praxistauglich ist der Vorschlag und was ist von der Gesetzesnovelle zu erwarten?
Hintergrund: Die derzeit geltende Rechtslage
Die Arbeitgeberpflicht zur Erfassung von Arbeitszeiten ist in deutschen Gesetzen bereits seit Längerem verankert. So enthält das Arbeitszeitgesetz die Aufzeichnungspflicht von Arbeitszeiten aller Mitarbeitenden (mit Ausnahme der leitenden Angestellten), die über den gesetzlichen Regelfall von 8 Stunden pro Tag hinausgehen. Des Weiteren sehen zahlreiche spezielle Gesetze (z.B. Mindestlohn-, Arbeitnehmerentsende- sowie Arbeitnehmerüberlassungsgesetz) die Pflicht zur Erfassung der gesamten Arbeitszeit für einzelne, für Zeitüberschreitungen besonders anfällige Branchen und Berufsgruppen vor. Den meisten dieser Regelungen ist gemein, dass sie die grundsätzliche Pflicht zur Aufzeichnung von Beginn, Ende und Dauer täglichen Arbeitszeit binnen einer Woche statuieren. Abweichend vom Mindestlohn- und Arbeitnehmerentsendegesetz soll die Aufzeichnung nur der Dauer der täglichen Arbeitszeit genügen, wenn Mitarbeitende ihre Tätigkeit ausschließlich mobil ausüben, sie ihre Arbeitszeit eigenverantwortlich einteilen können und Arbeitgeber Beginn und Ende der Arbeitszeit nicht vorgeben. Derzeit geht nur die Regelung des „Gesetzes zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft“ weit über diese Aufzeichnungspflichten hinaus, indem sie vorsieht, dass die tägliche Arbeitszeit „elektronisch, manipulationssicher und unmittelbar bei Arbeitsaufnahme“ erfasst werden muss.
Mit dem Urteil vom 13.06.2022 hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass Arbeitgeber die gesamte Arbeitszeit aller Mitarbeitenden (wiederum mit Ausnahme der leitenden Angestellten) erfassen müssen. Das höchste deutsche Arbeitsgericht stützt diese Rechtsprechung auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2019, das eine Notwendigkeit zur Einführung von objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systemen zur Messung der täglichen Arbeitszeit sah, damit die europarechtlich determinierten Arbeitszeit- und Arbeitsschutzregelungen effektiv umgesetzt werden können. Enthielt das EuGH-Urteil noch lediglich eine Handlungsvorgabe an die nationalen Gesetzgeber, wandte sich das BAG-Urteil nun unmittelbar an Arbeitgeber, die nach bereits geltendem Recht zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet seien. Dazu, wie die Erfassung erfolgen soll, hat das Bundesarbeitsgericht keine Vorgaben gemacht. Denkbar ist demnach alles, von der händischen Erfassung über die Stechuhr bis zum elektronischen Zeitwirtschaftssystem, solange die Erfassung eben „objektiv, verlässlich und zugänglich“ ist.
Diese Rechtsprechung ist vor allem deshalb in Kritik geraten, weil die strengen materiell-rechtlich Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes – etwa zur ununterbrochenen Ruhezeit von 11 Stunden, zu den minutengenau vorgegebenen Pausenzeiten und -positionen und zur starren täglichen Höchstarbeitszeit von 10 Stunden – angesichts moderner Arbeitsformen wie New Work und Mobile Office als nicht mehr zeitgemäß empfunden werden. Die Diskrepanz von Theorie und Praxis tritt dann offen zu Tage, wenn etwa der Blick auf das Diensthandy nach Feierabend oder sonntägliche Reisezeiten mit dem eigenen PKW problematisiert werden. Daher lag die Hoffnung auf dem deutschen Gesetzgeber, die europarechtlichen Spielräume auszuschöpfen und die Verschärfung der formalen Anforderungen an das Arbeitszeitrecht mit einer Flexibilisierung seiner materiellen Inhalte auszugleichen. Tatsächlich ist das europäische Arbeitszeitrecht weniger streng als das deutsche, gibt es doch nur einen wöchentliche Arbeitszeitrahmen, weniger spezifische Pausenregelungen und kein Verbot von Feiertags- und Sonntagsbeschäftigung vor und eröffnet es den nationalen Gesetzgebern die Möglichkeit, Ausnahmen für Arbeitsverhältnisse zu schaffen, in denen Arbeitszeit nicht gemessen oder im Voraus festgelegt werden kann. Auch gibt das Europarecht nicht vor, wie die Aufzeichnung erfolgen soll.
Pflicht zur elektronischen Erfassung nach dem vorliegenden Gesetzesentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales
Auf die leise Hoffnung folgt Ernüchterung, nachdem der Vorschlag des BMAS für die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung nun vorliegt. Demnach sollen Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch erfasst werden. Der Arbeitgeber darf die Aufzeichnung an seine Mitarbeitenden delegieren, muss jedoch durch „geeignete Maßnahmen“ sicherstellen, dass ihm Arbeitszeitverstöße bekannt werden. Dass sich Arbeitgeber auch bei Vertrauensarbeitszeit als Adressaten der Arbeitszeitvorgaben nicht der Verantwortung würden entziehen können, war schon nach dem BAG-Urteil klar. Inwieweit Kontrollen durchzuführen sind und wie auf etwaige Arbeitszeitverstöße zu reagieren ist, waren mitunter die wesentlichen Fragen, die sich aus dem Urteil ergaben. Auch der Gesetzesentwurf des BMAS schafft in diesen Punkten keine Rechtssicherheit, denn er lässt offen, wie die von ihm verlangten „geeigneten Maßnahmen“ aussehen sollen. Sollte der Gesetzesentwurf so übernommen werden, bliebe den Normanwendern also ein gewisser Auslegungsspielraum: Reichen stichprobenhafte Kontrollen aus? In welchen Abständen sollen sie erfolgen? Ist es vertretbar, bei Vertrauensarbeitszeit nur anlassbezogene Stichproben vorzunehmen? Diese Fragen zu beantworten, wäre dann Aufgabe der Arbeitsgerichte.
Ausnahmen von der Pflicht zur elektronischen Erfassung sollen laut dem Gesetzesentwurf nur in Kleinbetrieben gelten. Auch soll es Tarifvertragsparteien möglich sein, bestimmte Ausnahmeregelungen – von der elektronischen Erfassung, von der täglichen Aufzeichnung sowie von der generellen Aufzeichnung für bestimmte Berufsgruppen – zu schaffen, oder Betriebsparteien entsprechende Ausnahmeregelungskompetenzen zu übertragen. Für nicht-tarifgebundene Unternehmen besteht keine Möglichkeit für solche Ausnahmeregelungen.
Schließlich sieht der Gesetzesentwurf vor, dass Arbeitgeber ihren Mitarbeitenden über die erfassten Arbeitszeiten auf Verlangen Auskunft erteilen und Ihnen eine Kopie der Aufzeichnungen zur Verfügung stellen müssen.
Ausblick: Inwieweit wird der Vorschlag umgesetzt werden?
Sicher ist, die Pflicht zur Erfassung der gesamten Arbeitszeit kommt, sie wird im Arbeitszeitgesetz verankert und bußgeldbewehrt sein und der damit einhergehende bürokratische Aufwand in Unternehmen wird steigen. Allerdings scheint mehr als fraglich, dass sich der Gesetzesentwurf des BMAS in seiner jetzigen Form durchsetzen wird. In den kommenden Wochen werden zahlreiche Stellungnahmen von Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und Branchenvertretern erwartet. Bislang gilt die strenge Form der elektronischen und täglichen Erfassung nur in der Fleischindustrie – eine Übernahme dieser Vorgaben in das Mindestlohngesetz und damit eine Erweiterung auf andere Branchen konnte sich trotz entsprechender Ambitionen im Gesetzgebungsverfahren bislang nicht durchsetzen. Selbst wenn es im Grundsatz bei der vom BMAS vorgesehenen Ausgestaltung bleiben sollte, darf zu Recht erwartet werden, dass die Ausnahmeregelungen nachgebessert werden.
Sicher kann davon ausgegangen werden, dass die Gesetzesnovelle eine Informationspflicht der Arbeitgeber über die geleisteten Arbeitszeiten gegenüber der Mitarbeitenden enthalten wird. Solche Aufzeichnungen werden in künftigen Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Mitarbeitenden zur Überstundenvergütung eine Rolle spielen und Auswirkungen auf die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Prozess haben. Wie die Gerichte es bewerten, wenn sich Arbeitgeber künftig darauf berufen, etwaige Überstunden nicht angeordnet, geduldet oder genehmigt zu haben, obwohl sie durch die Arbeitszeiterfassung stets Gelegenheit zur Prüfung haben, wird sich zeigen. Dies wird dann eben auch wieder von der Frage abhängen, inwieweit der Arbeitgeber zur Kontrolle der erfassten Zeiten verpflichtet ist.
Schließlich scheint sicher, dass der Gesetzgeber die materiellen Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes in absehbarer Zeit nicht anfassen wird, da dies weit mehr Aufwand bedürfte, als das BMAS in den seit dem EuGH-Urteil vergangenen vier Jahren in seinen nun vorgelegten Vorschlag zur Änderung des § 16 ArbZG investiert hat. Auch der vom BMAS für das kommende Jahr angekündigte „Rechtsrahmen für mobiles Arbeiten“ wird hierzu wohl leider keine Neuerungen enthalten.