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BAG: Kein Präventionsverfahren bei Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers in der Wartezeit

13.08.2025

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Paukenschlag im Arbeitsrecht: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit Urteil vom 3. April 2025 (Az. 2 AZR 178/24) klargestellt: Arbeitgeber sind in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses nicht verpflichtet, vor der Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX einzuleiten. Die Entscheidung beseitigt langjährige Rechtsunsicherheiten und hat erhebliche Bedeutung für die arbeitsrechtliche Beratungspraxis.

I. Der Sachverhalt

Ein Arbeitnehmer mit anerkannter Schwerbehinderung war erst seit wenigen Monaten in einem Unternehmen als Leiter für die Haus- und Betriebstechnik beschäftigt. Innerhalb der sechsmonatigen Wartezeit des Kündigungsschutzgesetzes (§ 1 Abs. 1 KSchG) erhielt er vom Arbeitgeber die ordentliche Kündigung. Im Rahmen des sodann angestrengten Kündigungsschutzprozesses machte er geltend, die Kündigung sei unwirksam, weil der Arbeitgeber kein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchgeführt habe. Dieses Verfahren ist seitens des Arbeitgebers im Rahmen der Beschäftigung schwerbehinderter Arbeitnehmer durchzuführen, wenn im Arbeitsverhältnis personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Schwierigkeiten auftreten, die zur Gefährdung dieses Arbeitsverhältnisses führen können. Es soll dabei helfen, die Schwierigkeiten zu beseitigen und frühzeitig Maßnahmen zu entwickeln, um das Arbeitsverhältnis dauerhaft zu erhalten.

Die Vorinstanzen, das Arbeitsgericht Nordhausen und das Thüringer Landesarbeitsgericht, wiesen die Klage ab. Der Arbeitnehmer verfolgte sein Begehren schließlich bis zum BAG, das nun ebenfalls entschied, dass ein Präventionsverfahren in der Wartezeit nicht verpflichtend ist.

II. Die Kernaussagen der Entscheidung

Das BAG hat entschieden, dass die Pflicht zur Durchführung eines Präventionsverfahrens voraussetzt, dass der allgemeine Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz (KSchG) greift, also erst nach sechs Monaten. Diese Wartezeit ist bewusst als Zeitraum ausgestaltet, in dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer ohne die hohen Hürden des allgemeinen Kündigungsschutzes prüfen können, ob das Arbeitsverhältnis fortgeführt werden soll.

Das Gericht betont, dass § 167 Abs. 1 SGB IX zwar eine wichtige präventive Funktion hat, jedoch keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Kündigung darstellt. Das Unterlassen des Verfahrens führt daher nicht automatisch zur Unwirksamkeit der Kündigung. Nur wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Kündigung wegen der Behinderung erfolgt ist, kann eine Diskriminierung im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) vorliegen. Diese muss dann gesondert geprüft und gegebenenfalls gerichtlich geltend gemacht werden.

III. Rechtliche Einordnung

§ 167 Abs. 1 SGB IX verpflichtet Arbeitgeber, bei auftretenden Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis mit schwerbehinderten oder ihnen gleichgestellten Arbeitnehmern frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung, den Betriebs- oder Personalrat sowie das Integrationsamt einzubeziehen. Ziel ist es, geeignete Maßnahmen zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu finden. Die Vorschrift ist präventiv angelegt und soll vor allem Kündigungen vermeiden, die im Zusammenhang mit der Behinderung stehen.

Das BAG knüpft die Anwendung der Vorschrift eng an die Strukturen des allgemeinen Kündigungsschutzes. Während der Wartezeit besteht vor der Kündigung eines Schwerbehinderten daher keine Pflicht zur Einleitung eines Präventionsverfahrens. Diese Auslegung steht nach Auffassung und ausführlicher Argumentation des Gerichts im Einklang mit dem Gesetzeswortlaut, der Gesetzessystematik und dem gesetzgeberischen Willen. Auch eine unionsrechtskonforme Erweiterung lehnt das BAG ab: § 167 SGB IX sei keine zwingend zu ergreifende „angemessene Vorkehrung“ im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention oder des EU-Rechts.

IV. Praxisrelevanz der Entscheidung

Für Arbeitgeber bedeutet die Entscheidung ein deutliches Plus an Rechtssicherheit im Zusammenhang mit der Kündigung Schwerbehinderter. Innerhalb der Wartezeit und auch im Kleinbetrieb kann eine Kündigung ausgesprochen werden, ohne dass vorher zwingend ein Präventionsverfahren eingeleitet werden muss. Dennoch empfiehlt es sich nach wie vor, die Gründe für die Kündigung intern zu dokumentieren und jeden Anschein einer Diskriminierung zu vermeiden. Auch wenn das BAG die Pflicht zum Präventionsverfahren verneint, bleiben Fürsorgepflichten, Beteiligungsrechte der Schwerbehindertenvertretung und der Schutz vor Benachteiligung unberührt.

Fazit

Das BAG hat mit seiner Entscheidung eine klare Linie gezogen: § 167 Abs. 1 SGB IX ist kein „versteckter Kündigungsschutz“ für Schwerbehinderte in der Probezeit. Arbeitgeber müssen in dieser Phase kein Präventionsverfahren durchführen. Gleichwohl bleibt die Pflicht bestehen, Diskriminierungen zu vermeiden und die allgemeinen arbeits- und sozialrechtlichen Schutzvorschriften zu beachten. Für die arbeitsrechtliche Beratung bedeutet dies, dass der Fokus in der Wartezeit weniger auf formalen Präventionspflichten liegt, sondern stärker auf der sauberen Begründung und Dokumentation von Kündigungsentscheidungen.